ICH GEHE DA HIN, WO DER NAME VON JESUS CHRISTUS NOCH UNBEKANNT IST.

Apostel Paulus in Römer 15, 20

Ihr habt mich nicht aufgenommen

29. Oktober 2018

«Wir haben einen Gast diese Woche. Kann sie in eurem Haus übernachten?» Ohne nachzudenken beantworteten meine WG Kollegin und ich diese Frage mit «Klar, kein Problem». Der besagte Gast war Li-Ning, eine Frau aus China. Sie hatte ähnliche Ansichten und Anliegen wie wir und wollte herausfinden, ob unsere Stadt ein guter Arbeitsort für sie wäre.

Doch mir fiel auf, dass Li-Ning sich weder an kulturelle noch an sicherheitstechnische Fragen zu denken schien. Das bereitete mir Sorgen und Unbehagen. Ich wünschte, ich müsste nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden. Auch sprachlich war es eine Herausforderung uns gut zu verständigen. Und als mir zudem bewusst wurde wie anders die asiatische Definition von Privatsphäre ist, da war meine Begeisterung über unseren Gast wie weggeblasen. Äusserlich gab ich mir zwar Mühe, mir nichts anmerken zu lassen. Aber in mir war null Offenheit, jemanden, der so anders ist und den ich nicht kenne, aufzunehmen und an meinem Leben teilhaben zu lassen. Mit halbherziger Hilfsbereitschaft beantwortete ich ihre Fragen. Heimlich wünschte ich mir, Li-Ning würde bald wieder abreisen.

Offene Türen im Spital

Li-Ning arbeitet als Physiotherapeutin. Während ihrer Zeit bei uns besuchte sie das kleine Spital. Obwohl dies die Provinzhauptstadt ist, gibt es weit und breit keinerlei Art von Physiotherapie. Der Direktor war angetan von Li-Nings Fähigkeiten und erteilte ihr die Erlaubnis ihr Wissen anzuwenden und den steifen Muskeln der Patienten durch ein paar Handgriffe und Massagen Linderung zu verschaffen.
Über die medizinische Erstversorgung hinaus wird hier keinerlei weitere Hilfestellung erbracht. Die Patientenpflege wird den Angehörigen überlassen. Patienten sind oft vernachlässigt, ausgehungert und schmutzig, besonders wenn sie aus entfernten Dörfern kommen und die Angehörigen die nötigen Ressourcen oder das Wissen nicht haben.

Offene Herzen

Als erstes wusch Li-Ning die Patienten und zeigte den Angehörigen, wie sie ihren Kranken in dieser Weise helfen können. Dann massierte sie schmerzende Gliedmassen und hörte den Patienten zu. Und wo ihre Sprachkenntnisse für Antworten fehlten, dachte sie einfach im Stillen an sie. So etwas hatten die Leute noch nie erlebt. Plötzlich war es egal, dass diese fremde Frau eine komische Chinesin war, die die kulturellen Gegebenheiten nicht zu erkennen schien und deren Aussprache kaum verständlich war. Alle, mit denen Li-Ning in Kontakt trat, schienen in Anbetracht ihrer durch und durch barmherzigen Art zu schmelzen.

Die Frauen konnten kaum glauben wie ihnen geschah. Vielen von ihnen war noch nie im Leben jemand so begegnet. Noch nie hatte sich jemand zu ihnen heruntergelassen, um sich um sie zu kümmern, sie zu waschen, sie zu pflegen und sie liebevoll wohltuend zu berühren. Die oft so harten und bitteren Masken lösten sich mit den Tränen auf. Mit offenem Mund starrten sie auf ihre saubere Haut und dann wieder auf Li-Ning, die unbeirrt von einem Patient zum nächsten ging. Li-Ning verbrachte zwei volle Tage im Spital und verschenkte ihre Zeit und Kraft. Alle die sie behandelte sagten, dass es ihnen geholfen habe und es ihnen jetzt viel besser gehe. Und dies obwohl Li-Ning ihnen keine Medizin verabreichte, nur herzliche Güte und Würde. Und simple Anleitungen zu Übungen und Dehnungen welche die Patienten dann selbst durchführen konnten. Doch von alle dem ahnte ich nicht das Geringste. Ich war immer noch damit beschäftigt mich mit den kulturellen Herausforderungen mit unserem Gast aufzuhalten.

Massage für mein Herz

Am letzten Abend wollte Li-Ning wissen, wie sie uns für Kost und Logis entgelten könne. Wir hatten beobachtet, dass Li-Ning mit sehr wenig lebte und wohl nicht viel Geld hatte. Doch sie bestand darauf uns etwas zu geben. Und so einigten wir uns, dass sie uns einfach eine Rückenmassage geben könne. Ich dachte dabei eher an so eine simple Sache. Doch sie meinte es ernst und so wurde das Wohnzimmer kurzerhand zum Massagesalon umfunktioniert. Was wir dann bekamen übertraf alle Erwartungen und überstieg bei weitem den Wert der Lebenskosten einer Woche.

Ich kann sagen, dass ich so etwas noch nie erlebt habe. Nicht nur dass jeder Handgriff von Li-Ning präzise und unglaublich wirksam war und dass sich meine Verspannung tatsächlich löste. Da war noch mehr. Sie tat, was sie tat mit tiefer Ausstrahlung von Fürsorge und Annahme. Und obwohl es schmerzte war es, als würde man der leibhaftigen Barmherzigkeit begegnen. Es war für mich, als würde ich durch Li-Ning Jesus begegnen. Nicht nur meine Nackenverspannung löste sich plötzlich auf, sondern auch mein hartes Herz. Mir war plötzlich klar, dass Er durch sie am Werk ist. Dass ihre Gaben von Ihm kommen und sie sich einfach ganz praktisch von Ihm gebrauchen lässt. Er ist das Geheimnis hinter ihrem Sein.

Asche auf mein Haupt

Wie kommt Er doch oft anders als dass wir es erwarten. Durch Li-Ning war Er bereits die ganze Woche in unserem Haus zu Gast gewesen. Und statt Ihn herzlich aufzunehmen begegnete ich Ihm mit Ablehnung. Beinahe wäre wahr geworden, dass Er wie in einem der Gleichnisse hätte sagen müssen: «Ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.» Wie anders funktionieren doch Seine Wertmassstäbe. Und einmal mehr wird deutlich, dass es die Unscheinbaren sind, die im Hintergrund unglaubliches bewegen.

Li-Ning möchte in Zukunft gerne regelmässig zu Besuch kommen. Sie überlegt sich, sich unserem Team anzuschliessen. Wo ich das ganze vor einigen Tagen noch sehr kritisch beurteilt hätte, hat sich meine Sicht nun verändert. Die Lücken in Li-Ning ‘s Kultur- und Sicherheitsverständnis müssen zwar noch angegangen werden. Aber meine WG-Kollegin und ich haben bereits mit Plänen begonnen, wie wir in unserem Haus ein permanentes Gästezimmer einbauen können, damit Li-Ning hier in Zukunft ein Heim vorfinden kann und sich zuhause fühlen darf.

Zentralasien

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