ICH GEHE DA HIN, WO DER NAME VON JESUS CHRISTUS NOCH UNBEKANNT IST.

Apostel Paulus in Römer 15, 20

Das Wertvollste was du hast?

20. April 2020

Eigentlich sollten die Studenten für das Seminar bereits hier sein. Spät-sein ist aber normal hier. Ich bin froh, noch ein paar Minuten Zeit zu haben, um besser vorzubereiten. Doch dann werden meine Gedanken durch ein Klopfen unterbrochen: «Tante, haben Sie Altpapier?» Im Türrahmen steht ein kleiner Bettlerjunge mit einem Sack über der Schulter.

Seinen Lebensunterhalt verdient er offensichtlich mit dem Sammeln von wiederverwertbarem Abfall. «Nein, leider nicht,» gebe ich zurück und beschäftige mich wieder mit den Unterlagen. «Tante, haben sie einen Zehner für mich?» «Nein, mein Sohn, ich habe leider nichts für dich,» so die formelle Antwort. Er beobachtet mich. Offensichtlich leicht erstaunt, dass er noch nicht angeschnauzt und weggejagt wurde. Aber ich kann ihm nichts geben. Vor allem nicht Geld. Und heute haben wir nicht einmal Altpapier für ihn... Ich vertiefe mich wieder in die Bücher.

«Ist das ein Flugzeug?» fragt plötzlich eine Bubenstimme. Der Junge ist immer noch da. Er hat sich einen Schritt ins Klassenzimmer gewagt. Sein Blick haftet an einem Bild, das mein Arbeitskollege über dem Pult aufgehängt hat.

Flugzeuge sind böse

«Ja, mein Sohn, das ist ein Flugzeug. Magst du Flugzeuge?», frage ich halb abwesend, immer noch beschäftigt mit meinem Papierstapel. «Nein! Flugzeuge sind böse!!» Überrascht blicke ich auf. «Flugzeuge bringen den Tod! Sie machen alles kaputt. Sie sind sehr laut. Sie sind böse.» Er starrt fixiert auf das Bild. Mit einem Schlag bin ich präsent. Aufgerüttelt. Vor mir steht ein traumatisiertes Kind! Der Junge beginnt in einfachen Bildern zu beschreiben, was er erlebt und gesehen hat. Mehr und mehr. Soll ich weiter für den Kurs vorbereiten oder alles zur Seite legen um zuzuhören? Ich entscheide mich für das Letztere und nehme in Kauf, dass ich vor der Klasse etwas improvisieren muss.

Der Junge erzählt und erzählt. Er scheint keine Ahnung zu haben, dass ich Ausländerin bin. Aber offensichtlich sonnt er sich in der ungeteilten Aufmerksamkeit. Es fließt die Geschichte von Zerstörung, Krieg und Flucht aus ihm heraus. Emotionslose Fakten. Als wäre das normal. Als könnte das Leben gar nicht anders sein. Die ersten Studenten kommen. Sie mustern den Bettler misstrauisch. Aber niemand wagt etwas zu sagen. Denn offensichtlich hat er die Erlaubnis, dass er hier sitzen darf. Und so bleibt er sitzen, selbst als der Unterricht beginnt.
Erst später wird mir bewusst, dass diese spontane Entscheidung richtig war. Obwohl ich im ersten Moment dachte, ich hätte nichts was ich geben könnte, konnte ich dem Jungen trotzdem das Wertvollste schenken was ich besitze: Zeit. Die wir nur einmal haben. Zeit, die unwiderruflich vergeht und nicht mehr zurückkommt.

Zuhören ist wertvoll

Gelegentlich wiederholt sich diese Szene, wenn ich alleine im Büro bin. Wie der Junge heißt, weiß ich nicht, denn wir reden über anderes. Heute zum Beispiel erzählt er mir davon wie man Skorpione «zähmt». Dass er in einem Loch einige davon gefangen hält, dass er gerne mit ihnen spielt und seine Schwester erschreckt. Aber auch, dass sein Bruder und seine Mutter umkamen. Dass er nicht zur Schule gehen kann. Und vieles mehr. Ich weiß jeweils nicht genau was ich von dem Erzählten glauben oder halten soll. Aber ich muss es gar nicht beurteilen. Meine Aufgabe ist nur mit Zeit und Aufmerksamkeit zu sagen: Ich sehe und höre dich. Ja, genau du bist wichtig und geliebt. Nach einer halben Stunde habe ich jeweils genug darüber gehört, auf was man bei Skorpionen achten muss, wie man am besten mit Baumnüssen spielt oder Drachen fliegen lässt: «Mein Sohn, ich muss jetzt noch ein paar Sachen erledigen. Einen schönen Tag noch.» Dann gibt er mir respektvoll die Hand und verschwindet glücklich wieder, um irgendwo mehr Altpapier und anderen Abfall aufzutreiben.

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